Schöpfung und Auflösung der materiellen Welt
In den Vedas wird der Hergang der Schöpfung und die Be-völkerung des Universums in verschiedener Weise beschrieben. Wir wollen uns hier mit einer einfachen Beschreibung begnügen. Die Erschaffung der materiellen Welt ist kein einmaliger Vorgang; Schöpfung und Vernichtung sind ewig und wiederholen sich zyklisch. Man kann die Schöpfung unterteilen in die Manifestation der materiellen Elemente und die Schöpfung Brahmās.
Die Manifestation der materiellen Elemente
Der Höchste Herr in Seiner Erweiterung als Mahā-Viṣṇu manifestiert zuerst aus Seiner māyā-śakti („Schattenenergie“) pradhana (die drei guṇas sattva, rajas, tamas im unmanifestierten Zustand). Daraus gehen – angeregt durch den Zeitfaktor (der Blick des Herrn) – die drei guṇas (Erscheinungsweisen der materiellen Natur – sattva, rajas, tamas) und dann das mahat-tattva, die unmanifestierte Gesamtheit der materiellen Elemente, hervor. Daraus werden die 24 Elemente des Körpers und des Universums als Umwandlungen erzeugt: ahankāra (das falsche Ego, aus dem die materiellen Bestandteile, materielles Wissen und materielle Tätigkeiten hervorgehen), manas (Geist), buddhi (Intelligenz), avyakta (der unmanifestierte Zustand von prakṛti, der materiellen Natur), die 5 tanmatras (Sinnesobjekte), die 5 wissenserwerbenden Sinne, die 5 Arbeitssinne und die 5 mahābhūtas (großen Elemente – Raum, Luft, Feuer, Wasser, Erde). Als erstes wird ahankāra manifestiert. Aus dem falschen Ego in tamo-guṇa gehen die 5 mahābhūtas mit den 5 tanmatras, ihren feinstofflichen Formen, hervor; aus dem falschen Ego in rajo-guṇa gehen die 5 Wissen erwerbenden Sinne (Gehörsinn, Tastsinn, Gesichtssinn, Geschmacksinn und Geruchsinn), die 5 Arbeitsinne (Beine, Arme, Zunge, Anus, Genital) und buddhi (Intelligenz) hervor und aus dem ahankāra in sattva-guṇa gehen manas und 10 Haupthalbgötter hervor.
Da diese Elemente getrennt unfähig sind, das materielle Universum zu erzeugen, verbinden sie sich mit Hilfe der Energie des Höchsten Herrn (personifiziert durch die Göttin Kali) und bringen ein goldenes Ei hervor. In der Manu-Saṃhitā heißt es, dass der auf dem Wasser (dem Ozean der Ursachen) ruhende Herr (Mahā-Viṣṇu; Nārāyaṇa) seinen Samen in das Wasser gab und dass aus diesem Samen ein goldenes Ei hervorging. Anders ausgedrückt bedeutet dies, dass der Herr das mahat-tattva durch seinen Blick mit den Lebewesen, den spirituellen Seelen, die nach einer Vernichtung der Welt in ihren feinstofflichen Körpern in ihn eingegangen sind, befruchtet und dass aus dieser Verbindung von materieller und spiritueller Energie in der Folge sich allmählich Universen manifestieren. Der Herr ging dann als Garbhodakaśāyī Viṣṇu in dieses Ei ein und legte sich dort auf dem Garbhodaka-Ozean, der dieses Ei bis zur Hälfte füllt, auf Ananta-śeṣa, seinem Schlangenbett, nieder. Dann sproß aus seinem Nabel ein Lotos, der das Behältnis aller Lebewesen ist und aus dem Lotos trat als erstes Lebewesen der mächtige Brahmā, der auch Svayambhuva (der Selbstgeborene) genannt wird, in Erscheinung.
Obige Abbildung veranschaulicht die Schöpfung der materiellen Elemente in drei Kategorien: jñāna-śakti, kriya-śakti, dravya-śakti (materielles Wissen, Tätigkeiten, Materie). Jñāna-śakti ist die Kraft, durch die aus dem selbstzentrierten Ego in satta-guṇa manas und zehn Devas, die im Universum und im Körper der Lebewesen Bewegungen etc. beherrschen, hervorgehen. Kriya-śakti ist die Kraft, durch die aus dem Ego in rajo-guṇa die zehn Sinne und buddhi (Intelligenz) hervorgehen und dravya-śakti ist die Kraft, durch die aus dem ahankāra in tamo-guṇa die 5 mahābhūtas (Elemente) mit ihren 5 Haupteigenschaften, die die Sinnesobjekte bilden, hervorgehen.
24 Elemente (5 materielle Elemente, 5 Sinnesobjekte, 5 wissenserwerbende Sinne, 5 Arbeitssinne, Geist, Intelligenz, ahankāra und avyakta oder mahat-tattva) bilden die Bestandteile, aus denen Brahmā die Körper der Lebewesen und andere Dinge im Universum erschafft.
Die Schöpfung Brahmās
Brahmā konnte nichts sehen und wusste nicht, wer er war und wo er sich befand. Er suchte überall im Lotus in allen Richtungen nach seinem Ursprung, doch fand er ihn nicht. Dann gab er seine Suche auf und richtete seinen Geist auf den Höchsten Herrn, bis er ihn schließlich im Innern seines Herzens auf dem Leib Sesa-nagas ruhend erkennen konnte und ihm alles sichtbar wurde. Diese Szene und die Gebete, die der Selbstgeborene dem Herrn daraufhin darbrachte, werden im Bhāgavatam beschrieben. Nachdem er vom Herrn gesegnet und unterwiesen worden war, wie das Universum zu erschaffen sei, führte er einhundert himmlische Jahre (eine für uns unvorstellbar lange Zeit) lang tapasya aus (tapasya oder tapas bedeutet spirituelle Disziplin), indem er sich durch Meditation im Dienste des Herrn beschäftigte. Gereift im Wissen sah Brahmā, dass der Lotos, auf dem er sich befand, im ganzen Universum verbreitet war und er begann, ihn in drei Einteilungen von Welten zu gliedern – die untere, mittlere und obere Welt. Zur unteren Welt gehören die höllischen Planeten, zur mittleren die Erde und zur oberen die himmlischen Planeten. Der höchste Planet, der die Residenz Brahmās ist, wird Satyloka oder Brahmāloka genannt, dann folgen Tapoloka, Janaloka, Mahārloka und Dhruvaloka, Saturn, Jupiter, Mars, Merkur, Venus, Mond, Sonne, Rahu, die Planeten der siddhas, caranas, yaksas, rakṣasas, die Erde, himmlische Planeten unterhalb der Erde wie Atala, Vitala, Sutala etc., Pitṛloka und schließlich 28 höllische Planeten angefangen mit Tamisra, wo sündhafte Menschen nach ihrem Tod bestraft werden.
Dann schuf Brahmā aus seinem Geist und seinem Körper die unbeweglichen Lebewesen (Bäume etc.), die niederen Lebensformen (Insekten, Reptilien, Vögel, Säugetiere etc.), die Devas und die Menschen. Die Schöpfung der Devas ist von achtfacher Art: (1) Halbgötter, (2) pitṛs, (3) asuras, (4) gandharvas und apsaras, (5) yakṣas und rakṣasas, (6) siddhas, caranas und vidyadharas, (7) bhutas, pretas und piśacas und (8) kinnaras und andere übermenschliche Wesen.1
Bevor der Selbstgeborene die Schöpfung der Lebewesen vornahm, erschuf er aus seinem Schatten ihre Lebensbedingungen, die Bedeckungen der Unwissenheit, die im Sanskrit andhatamisra (Furcht vor dem Tod, weil man glaubt, dass mit dem Tod alles vorbei ist), tamisra (Zorn nach Enttäuschung), maha-moha (falsches Besitzdenken), moha (Illusion), tamas (Dunkelheit im Wissen vom Selbst) und ajñāna (Unwissenheit) oder avidya genannt werden. Dies ist ein interessanter philosophischer Punkt. Bhaktivedanta Swami Prabhupada macht dazu in seiner Übersetzung des Śrīmad-Bhāgavatam folgende Bemerkungen:
„Solange eine lebendige Seele ihre wirkliche Identität nicht vergißt, ist es unmöglich, dass sie unter den materiellen Lebensbedingungen existieren muss. Die erste Bedingung des materiellen Daseins ist daher das Vergessen der eigenen wahren Identität. Und wenn man seine wahre Identität vergessen hat, ist es sicher, dass man sich vor dem Tod fürchtet, obwohl eine reine, lebendige Seele weder Geburt noch Tod kennt. Diese falsche Identifizierung mit der materiellen Natur ist die Ursache falschen Besitztums von Dingen, die durch die Vorkehrung einer höheren Macht angeboten werden. Durch falsche Identifizierung jedoch wird die bedingte Seele von dem falschen Gefühl gefangen, das Eigentum des Höchsten Herrn zu besitzen . . . .“
„. . . .Fast alle bedingten Seelen, die in der materiellen Welt schmachten, missbrauchen ihre Unabhängigkeit, und daher werden ihnen fünf Arten von Unkenntnis auferlegt. Als gehorsamer Diener des Herrn erschafft Brahmā all diese Dinge als eine Sache der Notwendigkeit, doch ist er hierbei nicht glücklich, denn ein Gottgeweihter sieht es natürlich nicht gern, wenn jemand von seiner wirklichen Stellung abweicht und zu Fall kommt. Menschen, die sich um den Pfad der Erkenntnis nicht kümmern, bekommen vom Herrn alle Möglichkeiten, ihren Neigungen in vollstem Ausmaß nachzugehen, und Brahmā hilft hierbei ohne Fehl.“
Der verehrenswerte Brahmā schuf zu Beginn vier große Weise namens Sananda, Sanaka, Sanātana und Sanat-kumara. Als diese nicht gewillt waren, Nachkommenschaft zu zeugen und das Universum zu bevölkern, wurde Brahmā zornig. Der Zorn trat aus seiner Stirn hervor und erzeugte Rudra. Diese Inkarnation des Zornes zerstört am Ende von Brahmās Leben das gesamte Universum. Nach Rudra schuf der Selbstgeborene zehn Weise – aus seinem Atem Vasistha, aus seinem Daumen Daksa, aus seiner Überlegung Narada, aus seinem Tastsinn Bhrgu, aus seinem Mund Angira, aus seinen Augen Atri, aus seinen Ohren Pulastya, aus seiner Hand Kratu, aus seinem Geist Marici und aus seinem Nabel Pulaha. Aus seiner Brust manifestierte sich Religion, aus seinem Rücken Irreligion, aus seinem Herzen Lust und Begierde, aus seinem Mund Sprache, aus seinem Penis der Ozean und aus seinem Anus niedere und abscheuliche Tätigkeiten. Trotz Brahmās Macht, ging es nicht immer glatt zu in seiner Schöpfertätigkeit, wie überhaupt im materiellen Dasein niemals alles so läuft, wie man es sich vorstellt. Doch darüber wollen wir hier nicht berichten.
Eines Tages, als Brahmā in tiefes Nachdenken versunken war und sich darüber wunderte, dass das Universum noch immer nicht genügend bevölkert war, wurden aus seinem Körper zwei menschliche Formen erzeugt, eine männliche und eine weibliche, die sich augenblicklich sexuell vereinigten. Die männliche Form wurde als Svayambhuva und die weibliche als Shatarupa bekannt. Mit ihnen beginnt die Geschichte der Menschheit, sie sind die Urahnen der Menschen. Sie zeugten zwei Söhne – Uttanapada und Priyavrata – und drei Töchter namens Akuti, Devahuti und Prasuti, die mit Ruci, Kardama bzw. Daksha verheiratet wurden und im Laufe der Zeit zahllose Nachkommen hervorbrachten. Svayambhuva ist ein Manu, ein avatāra, der für das Wohl des Universums sorgt.2 Nachdem Manu eine lange Zeit regiert hatte, zog er sich in den Wald zurück und übergab sein Amt Priyavrata. Priyavratas Nachfolger wurde Agnidhra, Agnidhra folgte Nabhi, dessen Nachfolger wurde Ṛṣabha, eine Inkarnation des Herrn, und Ṛṣabhas Nachfolger wurde Bhārata, nach welchem später die Erde benannt wurde (bhārata-varṣa).
Im Laufe eines Tages Brahmās erscheinen 14 Manus, von denen jeder 71–72 caturyugas die Welt regiert. Ein Tag Brahmās währt tausend caturyugas (ein caturyuga – aus vier Zeitaltern bestehender Zyklus – währt 4.320.000 Jahre). Brahmās Nacht dauert ebenso lang. In dieser Zeit ist das Universum bis hinauf nach Satyaloka zerstört und unbewohnbar. Brahmā lebt einhundert Jahre nach dieser Zeitrechnung, das sind 1000*365*100 caturyugas. Wenn man diese Zahl mit 4.320.000 multipliziert, erhält man die Dauer des Universums nach menschlicher Zeitrechnung.
Auflösung des Universums
Die vedischen Schriften unterscheiden vier Arten von Auflösungen:
- Kontinuierliche Auflösung – Auflösung der Körper der Lebewesen nachdem die Seele den Körper verlassen hat.
- Gelegentliche Auflösung – Nach jedem Tag Brahmās findet eine Teilauflösung des Universums statt. Dann sind alle Planeten unterhalb Brahmālokas (dem Reich Brahmās) nicht existent.
- Elementare Auflösung – Wenn Brahmās Lebensspanne abgelaufen ist, wird das ganze Universum aufgelöst; die 24 Elemente gehen wieder in ihren Urzustand ein und die spirituellen Seelen ruhen in Mahā-Viṣṇu, bis sie bei der nächsten Schöpfung wieder in einen neuen Körper versetzt werden und im Rad des Lebens von Körper zu Körper wandern.
- Endgültige Auflösung – Befreiung der Seele aus dem Kreislauf von Geburt und Tod und Eingehen in das ewige spirituelle Reich Gottes.
Die Auflösung des Universums erfolgt in umgekehrter Reihenfolge wie seine Schöpfung: Das gröbste Element – Erde – geht, seiner Eigenschaften verlustig, in das Element Wasser ein, Wasser geht in Feuer ein, Feuer in Luft, Luft in Raum und Raum in das falsche Ego in tamo-guṇa. Das falsche Ego in rajo-guṇa absorbiert die Sinne und die Intelligenz und ahankāra in sattva-guṇa absorbiert manas und die 10 Haupt-Devas. Dann löst sich das falsche Ego im mahat-tattva auf, mahat-tattva in den drei guṇas und die drei guṇas im pradhana. Pradhana ist die Ursubstanz und Grundlage der materiellen Schöpfung. Es ist ohne Eigenschaften und deshalb unbeschreibbar. Pradhana wird schließlich von Mahā-Viṣṇu absorbiert.
Anmerkungen
1 „Unterhalb der Planeten Vidyadharaloka, Caranaloka und Siddhaloka, in dem Bereich des Himmels, der als antariksa bezeichnet wird, befinden sich die Orte des Genusses der yakṣas, rakṣasas, piśacas, Geister (bhutas, pretas) usw.“ (Śrīmad-Bhāgavatam 5.24.5)
2 Das Sanskritwort manuṣya (Mensch) kommt von Manu. Das deutsche Wort „Mann“ und das englische Wort „man“ stammen vom Sanskritwort Manu ab.