Materie und Bewusstsein
Leben (āyus) bedeutet die Verbindung von Körper, Geist und Seele. Der große Lehrer und Kenner des Ayurveda, Punarvasu Atreya, definiert in der Caraka-Saṃhitā Leben mittels folgender Synonyme: cetananuvṛtti (Fortbestand des Bewusstseins), jīvita (Beseelung), anubandha (beständiger Fluss) und dhāri (Erhaltung des Körpers). Ayurveda ist die Wissenschaft, durch die ayus, das Leben, verstanden wird.
Ein Körper kann nicht ohne Bewusstsein existieren, was aber ist Bewusstsein und woher kommt es? Materialistische Wissenschaftler, die nach dem Ursprung des Bewusstseins forschen, stellen sich die Frage: „wie entsteht aus Materie Bewusstsein, wie entwickelt sich Bewusstsein im Lebewesen?“ Zu dieser Frage werden sie nur nutzlose Spekulationen liefern können und wenn sie zehn Nobelpreise dafür bekommen. In vedischen Schriften, speziell in der Sankhya-Philosophie, wird die Frage andersherum gestellt und auch beantwortet: „wie entsteht aus Bewusstsein Materie?“.
Bewusstsein im Lebewesen ist spirituelle Energie, ein Symptom der spirituellen Seele. Es gibt in dieser Welt zwei Hauptenergien: prakṛti (materielle Energie) und brahman (spirituelle Energie). Materielle Energie, Materie, ist ohne Bewusstsein und spirituelle Energie besitzt Bewusstsein. Leben bedeutet eine Kombination dieser beiden Energien und wird durch die Anwesenheit des Höchsten Bewusstseins in Form von paramātmā (Überseele) im Lebewesen aktiviert. Deshalb heißt es in Caraka-Saṃhitā, Sūtrasthana 1.48: „sendriyam cetanam dravyam nirindriyam acetanam – dravya mit Sinnesorganen (lebendiger Körper) ist bewusst und dravya ohne Sinnesorgane (tote Materie) ist unbewusst“.
Jivātmā (die spirituelle Seele) ist ein winziges Teilchen von brahman, wie ein Lichtpartikel ein winziges Teilchen der Sonne oder ein kleiner Funke in einem unendlichen Feuer ein winziges Teilchen dieses Feuers ist. Die Quelle von brahman ist parabrahman, die Höchste Persönlichkeit Gottes; brahman ist die gleißende Ausstrahlung seines transzendentalen Körpers. Der Höchste Herr und jivātmā sind eins, in dem Sinne, dass beide von spiritueller Natur sind, genauso wie Funken eines Feuers oder Strahlen der Sonne eins sind in bezug auf Licht und Wärme.
Die Persönlichkeit Gottes ist das Reservoir unbegrenzter Energien. Sie besitzt unbegrenzte Macht, ist völlig unabhängig, allwissend, alldurchdringend, unfehlbar, absolut. Die spirituellen Seelen sind ihrer Natur nach seine Diener. Sie besitzen eine winzige Unabhängigkeit, die darin besteht, dass sie Ihm dienen oder sich von Ihm abwenden können. Diejenigen der unzähligen jīvas, die sich von Ihm abwenden, gelangen in die materielle Welt und nehmen dort entsprechend ihrer Verlangen und Taten einen Körper nach dem anderen an. Wenn sie sich ihrer wahren Natur bewusst werden und sich im Dienste des Herrn beschäftigen, werden sie befreit und gelangen in die spirituelle Welt, wo es weder Geburt noch Tod, noch Krankheit, noch Alter, noch die geringste Spur von Leid und Unwissenheit gibt.
Die vedischen Schriften erklären wie aus Bewusstsein, d.h. aus dem Bewusstsein des Höchsten Herrn, Materie entsteht. Der Höchste Herr in der Form Mahā-Viṣṇus erschafft zuerst aus Seiner māyā-śakti („Schattenenergie“) pradhana oder mahat-tattva, die unmanifestierte Gesamtheit aller materiellen Elemente. Daraus manifestieren sich – angeregt durch den Zeitfaktor – die drei guṇas (sattva, rajas, tamas – Erscheinungsweisen der materiellen Natur) und die 24 Elemente des Körpers: ahankāra (falsches Ego), manas (Geist), buddhi (Intelligenz), avyakta (der unmanifestierte Zustand von prakṛti, der materiellen Natur), die 5 tanmatras (Sinnesobjekte), die 5 wissenserwerbenden Sinne, die 5 Arbeitssinne und die 5 mahābhūtas (großen Elemente – Erde, Feuer, Wasser, Luft und Raum). Ahankāra hat drei Aspekte: vaikarika (Reinheit, Tugendhaftigkeit), taijasa (Leidenschaft) und tamasa (Unwissenheit, Trägheit).
In dem Moment, wo ātmān (spirituelle Seele; bewusster spiritueller Funke) durch sein karma und seine materiellen Wünsche unterer höherer Kontrolle in eine materielle Verbindung – z.B. von Samen und Eizelle – eingeht, entwickelt sich ein Lebewesen. Das Bewusstsein des Lebewesens wird durch seinen materiellen Körper gefiltert. Nach vedischer Philosophie gibt es 8.400.000 Lebensformen, das bedeutet, dass es genauso viele Filter des Bewusstseins der spirituellen Seelen gibt. Innerhalb der menschlichen Lebensform ist das Bewusstsein auch wieder vielfach gefiltert, z.B. hat ein Kind ein anderes Bewusstsein als ein Säugling und ein Erwachsener ein anderes als ein Kind. Außerdem wird das Bewusstsein eines Menschen durch sattva, rajas und tamas oder einer Kombination dieser guṇas bedingt.
Die Schriften unterscheiden 5 Stadien des Bewusstseins: 1. acchadita-cetana (bedecktes Bewusstsein), 2. sankucita-cetana (beschränktes Bewusstsein), 3. mukulita-cetana (knospendes Bewusstsein), 4. vikacita-cetana (erblühendes Bewusstsein), 5. purna-vikacita-cetana (voll erblühtes Bewusstsein).
- Die spirituellen Seelen, die in Bäumen, Kräutern, Gräsern etc. und in Steinen residieren, befinden sich im bedeckten Bewusstsein. Sie sind fast unbewusst.
- Tiere, Vögel, Schlangen, Fische, Würmer, Insekten, etc. sind Lebewesen mit beschränktem Bewusstsein. Ihr Bewusstsein ist etwas geöffnet und ihre Aktivitäten sind hauptsächlich auf Essen, Schlafen, Verteidigung, Sex, Spiel u.a. Tätigkeiten, die sich nur auf den Körper beziehen, fixiert. Sie sind sich nicht bewusst über die Existenz einer Welt jenseits der Materie. Manche Tiere haben Wissen über die verschiedenen Eigenschaften verschiedener Objekte. Sie mögen auch Zeichen von Dankbarkeit und anderen Gefühlen zeigen, suchen jedoch nicht nach Gott, streben nicht nach Erkenntnis der Absoluten Wahrheit. Deshalb wird ihr Bewusstsein beschränkt genannt.
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Bedingte Seelen in menschlichen Körpern zeigen drei Stadien von Bewusstsein: knospendes, erblühendes und voll erblühtes Bewusstsein. In dieser Hinsicht unterscheiden die Schriften fünf Arten von Menschen:
- (1) unmoralische Leute,
- (2) Atheisten, die moralischen Prinzipien folgen,
- (3) Leute, die an Gott glauben und moralischen Prinzipien folgen,
- (4) Personen, die sich im praktischen hingebungsvollen Dienst zu Gott (sadhana-bhakti) beschäftigen und
- (5) Personen, die sich im liebenden hingebungsvollen Dienst (bhava-bhakti) beschäftigen.
- Menschen, die an Gott glauben und moralischen Prinzipien folgen und Menschen, die sich im praktischen hingebungsvollen Dienst zu Gott beschäftigen, befinden sich im Stadium erblühenden Bewusstseins.
- Menschen, die sich im liebenden hingebungsvollen Dienst zu Gott beschäftigen, sind im voll erblühten Bewusstsein situiert.
Materie oder der materielle Körper bestehend aus 24 Elementen ist eine Bedeckung der spirituellen Seele, genauso wie verschiedene Kleider verschiedene Bedeckungen des Körpers sind. Wenn ich heute ein blaues Hemd trage und morgen ein grünes, bedeutet dies nicht, dass ich ein anderes Bewusstsein angenommen habe. Genauso bleibt das ursprüngliche Bewusstsein des Lebewesens unverändert, ganz gleich in welchem Körper ātmān gerade haust.
Aus spiritueller Sicht gleicht das materielle Dasein einem Traum. Ich mag mich im Traum als ein König oder Bettler oder irgendetwas anderes sehen, das ich im Tag-Bewusstsein nicht bin. Genauso identifiziert sich die spirituelle Seele mit ihrer jeweiligen Bedeckung, dem materiellen Körper, und denkt „ich bin ein Mann, eine Frau; ein Mensch, ein Pferd, ein Hund, eine Katze; ich bin Deutscher, Amerikaner; Hindu, Moslem; ich bin schön, hässlich, weise, dumm“ etc., obwohl sie im Grunde nichts mit diesen Designationen zu tun hat. Solange die spirituelle Seele materielle Wünsche hegt, ist sie in einem Traum gefangen und erlebt immer wieder Geburt, Alter, Krankheit und Tod. Der Traum des materiellen Daseins endet, wenn das Lebewesen zu seiner ursprünglichem Natur, zu seinem ursprünglichen Bewusstsein, erwacht und das ist nur in der menschlichen Lebensform möglich. Ein intelligenter Mensch sollte diese Möglichkeit nutzen. Wenn er es nicht tut und sich durch seine Handlungen degradiert, kann es sein, dass jivātmān in 8.400.000 Lebensformen wiedergeboren werden muss, bevor er wieder in einer menschlichen Lebensform die Möglichkeit erhält, sich dem Höchsten Herrn zuzuwenden und dem Kreislauf von Geburt und Tod (saṃsāra) zu entrinnen.
Materielles Bewusstsein, in welchem sich die spirituelle Seele mit ihrem jeweiligen Körper identifiziert und die Wünsche auf Sinnenbefriedigung gerichtet sind, ist eine Verrückung vom ursprünglichen spirituellen Bewusstsein. Im spirituellen Bewusstsein sind die Wünsche des Lebewesens auf das Erfreuen des Höchsten Herrn, Narayana oder Kṛṣṇa, gerichtet und es erfährt ständig wachsende Glückseligkeit im liebevollen Dienst zu Kṛṣṇa. Freude oder Glückseligkeit wird im materiellen Bewusstsein nur bedingt erfahren als zeitweilige Abwesenheit von Leid in verschiedenen materiellen Umständen. Deshalb sind die meisten Leute der Ansicht, dass es keine ständig wachsende Freude geben kann und dass Freude nur in Beziehung zu Leid erfahren werden kann. Für Freude im materiellen Bewusstsein ist diese Ansicht korrekt, nicht aber für Freude im spirituellen Bewusstsein. Aus materieller Sicht ist ständig wachsende Glückseligkeit nicht vorstellbar.
Ständig wachsende Glückseligkeit, die unabhängig ist von Lebensumständen und materiellen Bedingungen, kann man auch schon in diesem Leben erfahren, wenn das Bewusstsein unverrückbar auf den Höchsten Herrn fixiert ist. In vielen vedischen Schriften werden Heilige, ihr Leben und ihre Eigenschaften, Verhalten usw. beschrieben, die auf die spirituelle Bewusstseinsebene gelangt sind und man kann auch heute – wenn man vom Glück begünstigt ist – Menschen treffen, die auf der spirituellen Bewusstseinsebene (brahma-bhuta) verankert sind. Groben Materialisten erscheint deren Verhalten verrückt, während aus spiritueller Sicht das Verhalten der Materialisten verrückt ist.
Zum Schluss dieses Themas noch ein Wort zum Nutzen der Technik für Entwicklung von spirituellem Bewusstsein: Technische Errungenschaften basieren auf Erfindungen von Materialisten, da Transzendentalisten, die nach den Anleitungen der vedischen Schriften über den Höchsten Herrn meditieren, keine materiellen Wünsche für Verbesserung ihrer Lebensumstände haben und mit einem Minimum an sog. Lebensstandard zufrieden sind. Aber – und das ist ein wichtiger Punkt – technische Geräte können für spirituellen Fortschritt im liebevollen Dienst zum Höchsten Herrn verwendet werden.
Es geht im spirituellen Bewusstsein nicht darum, zwischen materiellen Dingen und spirituellen Dingen zu unterscheiden, sondern darum, alles in den Dienst des Höchsten zu stellen. Die ganze materielle Welt ist eine Manifestation der materiellen Energie des Höchsten Herrn und da die Energie nicht verschieden ist von ihrem Ursprung, ist die materielle Welt nicht verschieden vom Höchsten. Acintya bhedabheda tattva – der Höchste Herr ist eins mit allem und dennoch verschieden von allem. Ob ein Ding materiell oder spirituell ist, hängt von der Anwendung des Dinges ab. Wenn ich z.B. einen MP3-Player benutze, um mir während einer Zugfahrt Schlager und Pop-Musik etc. anzuhören, ist der MP3-Player und seine Benutzung materiell und wenn ich mit dem gleichen MP3-Player spirituelle Klangschwingungen (kṛṣṇa-kirtan, Vertonungen von Bhagavad-gītā, Śrīmad-Bhāgavatam etc.) höre, ist dieses Gerät und seine Nutzung spirituell.
Eine wunderbare technische Errungenschaft ist z.B. der MP3-Player – wenn das Gerät spirituell genutzt wird –, da dadurch jeder an jedem Ort und zu jeder Zeit kṛṣṇa-kirtan und andere spirituelle Klangschwingungen überall hören kann, wodurch das ursprüngliche reine Bewusstsein wiedererweckt wird. Natürlich – und das ist klar – mussten vor der Erfindung des MP3-Player noch viele andere technische Erfindungen gemacht werden, um überhaupt die spirituellen Klangschwingungen auf den MP3-Player zu bringen. Ein wohlmeinender Rat: nutze diese Technik für deinen spirituellen Fortschritt. Lade z.B. die Kirtana-Dateien auf der Download-Seite herunter und kopiere sie auf deinen MP3-Player und höre das so oft wie möglich, z.B. beim Joggen, Einkaufen, in der Straßenbahn usw. Störende Geräusche wie Musikbedudelung in Supermärkten, Straßenlärm usw. einfach mit den spirituellen Gesängen im Ohr übertönen, mitsingen und dabei wahre Freude genießen. . . . .