Vers
 VEDA 
jñānena tu tad ajñānam yeṣāṃ nāśitam ātmanaḥ | teṣām ādityavaj jñānaṃ prakāśayati tat param
„Wie die Sonne Dunkelheit vertreibt und alles erleuchtet, so zerstört göttliches Wissen Unwissenheit und enthüllt die transzendentale Absolute Wahrheit.“ — Bhagavad-Gītā 5.16    

Dharma, artha, kāma, mokṣa

Dharma (Religion; Erfüllung religiöser Pflichten), artha (wirtschaftliche Entwicklung), kāma (regulierter Sinnengenuss) und mokṣa (Befreiung) sind vier Objekte und Ziele einer menschlichen Gesellschaft. Sie werden zusammen als caturvarga (vier Pfade) bezeichnet. Nachfolgend werden sie im Einzelnen beschrieben.

Dharma

Dharma bedeutet religiöse Prinzipien, göttliche Gesetze und bezieht sich (1) auf varnāśrama dharma (die Ausübung religiöser Pflichten im vedischen Gesellschaftssystem) und (2) auf sanātana-dharma (nitya-dharma – ewige Religion) oder bhagavat-dharma. Dharmam tu sākṣād bhagavat-pranītam – wahre religiöse Prinzipien werden von der Höchsten Persönlichkeit Gottes gegeben. Außerdem gibt es noch spezifische religiöse Praktiken für jedes der vier Zeitalter, yuga-dharma genannt.

  1. (1) varnāśrama dharma: Die Pflichten im Varnāśrama-Gesellschaftssystem sind in verschiedenen vedischen Schriften wie z.B. Manu-Saṃhitā festgelegt. Sie sind letztlich dafür gedacht, die Tätigkeiten der Menschen zu regulieren, damit sie spirituellen Fortschritt machen können. In jedem der vier varnas (Gesellschaftsstände – brāhmaṇa, kṣatriya, vaisya, Śūdra) und der vier āśramas (Lebensstände – brahmacarya, gṛhasta, vānaprasta, sannyāsa) haben die Menschen verschiedene Pflichten zu erfüllen. Wenn die Mitglieder des Varnāśrama-Systems ihre jeweiligen Pflichten erfüllen, nützt das sowohl der Gesellschaft als Ganzem als auch dem Einzelnen: Frieden, Ordnung und Wohlstand für alle und Reinigung des Bewusstseins, spirituelle Erhebung für den Einzelnen, jenachdem wie entschlossen er den Anweisungen der Schriften folgt.
  2. (2) nitya-dharma: Ihrer innersten Natur nach sind alle Lebewesen als Teile des Höchsten Herrn Seine Diener. Das ist ihr dharma. Identifikationen der Lebewesen mit ihrem jeweiligen Körper sind Manifestationen des Einflusses der drei Erscheinungsweisen sattva, rajas und tamas. In der menschlichen Lebensform hat das Lebewesen, die spirituelle Seele die Möglichkeit zu erkennen, dass sie nicht mit dem Körper identisch ist, sondern von spiritueller Natur ist. Gefangen in verschiedenen Vorstellungen, die sich auf den Körper beziehen und nichts mit sanātana-dharma zu tun haben, denken Menschen „ich bin Deutscher“, „ich bin Inder“, „ich bin Christ“, „ich bin Moslem“, „ich bin Jude“ usw. und begreifen nicht ihre wahre Natur als ewige Diener des Höchsten Herrn. Menschen, die im sanātana-dharma verankert sind, erlangen Befreiung von allen falschen Vorstellungen, Glück, Furchtlosigkeit und Liebe zum Höchsten Herrn, indem sie sich durch die neun Vorgänge des Bhakti-Yoga in Seinem hingebungsvollen Dienst beschäftigen.

Im Śrīmad-Bhāgavatam (11.19.27) erklärt der Höchste Herr, was wahre religiöse Prinzipien, wahres Wissen, wahre Loslösung und wahre Opulenz sind:

„Wahre religiöse Prinzipien sind jene, die einen zu Meinem hingebungsvollen Dienst führen; wahres Wissen ist das Bewusstsein, das meine alldurchdringende Präsenz offenbart; wahre Loslösung ist völliges Desinteresse an den Objekten materieller Sinnenbefriedigung und wahre Opulenz besteht in den acht mystischen Vollkommenheiten (anima-siddhi, etc.).“

In einem Vortrag gibt Śrīla Bhaktivedanta Narayana Goswami interessante und aufschlussreiche Erklärungen zum Thema dharma. Er beschreibt drei bzw. vier Arten von dharma: nitya-dharma, naimittika-dharma, anitya-dharma und kaitava-dharma.

„. . . . Alle Arten von Dharma in dieser Welt können in drei allgemeine Kategorien eingeteilt werden: nitya-dharma, naimittika-dharma und anitya-dharma. Anitya-dharma ist das dharma, das die Existenz des Herrn und die Ewigkeit der Seele nicht akzeptiert. Naimittika-dharma ist das dharma, das die Ewigkeit des Herrn und der jīvas akzeptiert, aber nur vorübergehende Mittel vorschreibt, um die Gnade des Herrn zu erlangen. Und nitya-dharma ist jenes dharma, das mit den Mitteln der reinen Liebe danach strebt, die Dienerschaft von Kṛṣṇa zu erlangen.

Dieses nitya-dharma ist eins, auch wenn verschiedene Länder, Kasten und Sprachen es mit verschiedenen Namen bezeichnen. Dies ist die höchste Beschäftigung aller jīvas. In Indien wird dieses dharma als Vaiṣṇava-dharma bezeichnet. Vaiṣṇava-dharma ist ewig und das höchste Ideal des höchsten dharma. In der Erfüllung der zeitweise vorgeschriebenen Pflichten liegt keine direkte Ausführung von nitya-dharma. Vielmehr zielt sie indirekt auf nitya-dharma ab. Daher ist es von sehr geringem Nutzen. Die Vorgänge, die das anitya-dharma ausmachen, haben nichts mit nitya-dharma zu tun und werden als die Funktion von Tieren betrachtet. Sie können daher abgelehnt werden.

ahara-nidra-bhaya-maithuna ca samanyam etat pasubhir naranam | dharmo hi tesam adhiko viseso dharmena hina pasubhih samana     — Hitopadesa 25

‚Der Mensch ist dem Tier in Bezug auf Essen, Schlafen, Furcht und Paarung gleich. Doch die Eigenschaft der Religion ist einzigartig für den Menschen. Ohne Religion ist er nicht besser als ein Tier.‘

Jenes Dharma, in welchem die Natur des Selbst (der Seele) nicht kultiviert wird, in welchem man sich bemüht, Essen, Schlafen, Sex und Verteidigung zu vermehren, und in welchem der Genuss der vergänglichen Sinnesobjekte als das letztliche Ziel des menschlichen Lebens betrachtet und gefördert wird, ist das Dharma der Tiere. In diesem sogenannten Dharma ist es in der Tat völlig unmöglich, allem Leid zu entkommen und reines Glück zu erlangen, das das Ziel des menschlichen Lebens ist.

Deshalb heißt es im Śrīmad-Bhāgavatam (11.3.18):

karmany arabhamananam duhkha-hatyai sukhaya ca | pasyet paka-viparyasam mithuni-carinam nrnam

‚Alle Menschen in dieser Welt sind geneigt, Karma auszuführen, um von Sorgen befreit zu werden und Glück zu erlangen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Mit anderen Worten, der Kummer wird nicht vertrieben und das Glück wird nicht erlangt.‘

Aus diesem Grund gibt das Śrīmad-Bhāgavatam die höchste Unterweisung für alle Menschen dieser Welt:

labdhva su-durlabham idam bahu-sambhavante | manusyam artha-dam anityam apiha dhirah | turnam yateta na pated anu-mṛtyu yavan | nihsreyasaya visayah khalu sarvatah syat     — Śrīmad-Bhāgavatam 11.9.29

‚Nachdem man durch 8.400.000 Lebensformen gewandert ist, erreicht man die seltene menschliche Lebensform, die, obwohl sie vorübergehend ist, die Möglichkeit bietet, die höchste Vollkommenheit zu erlangen. So sollte ein nüchterner Mensch, ohne auch nur einen Augenblick zu vergeuden, nach dem höchsten Wohl des Lebens streben, solange sein Körper, der immer dem Tod unterworfen ist, noch nicht umgefallen und gestorben ist. . . ‘

. . . . In der heutigen Welt sind die meisten dharmas, mit den Worten des Śrīmad-Bhāgavatam, kaitava-dharma (‚betrügerische Religion‘). Śrī Caitanya-bhagavat sagt auch:

prthivite dharma name yata katha cale, bhagavata kahe taha paripurna chale – ‚Alle weltlichen Vorstellungen, die Religion genannt werden, sind nach dem Śrīmad-Bhāgavatam nichts anderes als eine Täuschung.‘

Anitya-dharma ist jenes dharma, in welchem das Gebet um Brot und Butter die höchste Form der Verehrung des Herrn ist; in welchem man sein moralisches Verhalten von dem eines Hindus zu dem eines Moslems, eines Buddhisten, eines Christen und wieder zurück zu dem eines Hindus ändert; und in welchem man versucht, sich von körperlichen Krankheiten zu befreien, indem man seinen Körper als sein Selbst (Seele) und seine Seele (oder seinen Geist) als den Herrn betrachtet. Die Menschen mit Kichari1 zu speisen, in dem Irrglauben, sie seien arm; Krankenhäuser und gottlose Bildungszentren zu bauen, in dem Glauben, dies sei der höchste Dienst an Gott; zu denken, dass nitya-dharma, anitya-dharma und alle anderen Arten von dharma eins sind; nitya-dharma zu vernachlässigen und Säkularismus zu propagieren; harmlose Tiere und Vögel im Namen der Liebe zur Welt zu opfern; und den Menschen und der Nation zu dienen, sind alles anitya-dharma. Keine dieser Aktivitäten bringt der Welt je dauerhaftes Wohlergehen.

Wenn wir jedoch nitya-dharma als einen Tempel betrachten – mit anderen Worten, als unser höchstes Ziel –, mögen wir diese anderen Dharmas teilweise akzeptieren, aber nur als Schritte, um diesen Tempel des nitya-dharma zu erreichen. Wo immer diese anderen Dharmas dem nitya-dharma widersprechen, es verdecken oder dominieren, sollten sie vollständig aufgegeben werden. Moral, Menschlichkeit oder weltliche Liebe, die frei von nitya-dharma sind, sind bedeutungslos und jeder Verherrlichung unwürdig. Das wahre Ziel und der einzige Zweck von Menschlichkeit und Moral ist es, kṛṣṇa-prema, Liebe zu Kṛṣṇa, zu erlangen. Wenn es nur einen einzigen wahren Ausführenden dieses nitya-dharma gibt, der das Feuer von hari-saṅkīrtana in Flammen hält, dann können seine Nation, seine Kaste und seine Gesellschaft niemals ruiniert werden – selbst dann nicht, wenn diese Nation von einem anderen Land unterdrückt und abhängig gehalten wird und ihre Schätze geplündert, ihre Schriften zu Asche verbrannt und ihre Kultur und ihr Wohlstand zerstört werden. Dieses saṅkīrtana ermöglicht das ewige Wohlergehen der Welt und des eigenen Landes, der eigenen Gesellschaft, der eigenen Kaste und des eigenen Selbst.

Ich beende meinen Vortrag, indem ich die letzte Unterweisung von Śrī Kṛṣṇa, dem Begründer des Dharma, wiederhole, wie sie in der Gītopaniṣad (Bhagavad-Gītā 18.66) steht:

sarva-dharmān parityajya mām ekaṃ śaraṅaṃ vraja | ahaṃ tvāṃ sarva-pāpebhyo mokṣayiṣyāmi mā śucaḥ

‚Gib alle Arten von Dharma in Bezug auf deinen Körper und deinen Geist vollständig auf, und gib dich Mir ganz hin. Ich werde dich von allen sündhaften Reaktionen befreien. Hab keine Angst.‘

artha

Das Befolgen von dharma im vedischen Gesellschaftssystem und fromme Handlungen führen zu artha, wirtschaftlicher Entwicklung, Verbesserung der Lebensumstände, Reichtum, Ansehen usw. in diesem oder im nächsten Leben.2 Menschen, die in sanātana-dharma verankert sind, sind nicht interessiert an artha, kāma und mokṣa.

kāma

Durch wirtschaftliche Entwicklung, Verbesserung der Lebensumstände, Reichtum, Ansehen usw. erlangt man kāma, Sinnengenuss oder Befriedigung der Sinne. Auch für die Befriedigung der Sinne gibt es Vorschriften oder Regulierungen. Nichtbefolgung dieser Regulierungen führt zu Degradation, d.h. wenn man seine Sinne nach Lust und Laune befriedigt und alle Regulierungen der Schriften verletzt, wird man sich mit Sicherheit früher oder später im Elend wiederfinden.

mokṣa

Wenn man des Sinnengenusses überdrüssig wird, weil man merkt, dass man dadurch nicht wirklich glücklich ist oder wenn man aus irgendeinem Grund sinnliche Verlangen nicht befriedigen kann, strebt man vielleicht nach mokṣa, Befreiung, Erlösung. Dann gibt man sich schwerer Askese hin, um für immer frei zu werden von Leid und dem Streben nach Glück. Oder man denkt vielleicht, wenn man überhaupt keine Verlangen mehr hat, ist man glücklich. Aber das ist ein Irrtum – genausogut könnte man ein Stein werden. Der Wunsch überhaupt keine Verlangen zu haben, ist selbst schon ein Verlangen.

Diejenigen, die mit sanātana-dharma beschäftigt sind, erlangen automatisch artha, kāma und mokṣa, obwohl sie überhaupt nicht daran interessiert sind. Man sollte sich vorbehaltlos ununterbrochem im Dienst des Höchsten Herrn beschäftigen – ohne nach materiellen Vorteilen zu streben –, dann wird man alles erhalten, was man braucht zum Leben; man wird glücklich sein und nach Verlassen des Körpers in das Reich Gottes eingehen.

Im Caitanya-caritāmṛta, Madhya-līlā 19.149 heißt es:

„Weil ein Geweihter Kṛṣṇas wunschlos ist, ist er friedvoll. Karmis (diejenigen, die nach den Früchten ihrer Arbeit streben) wünschen sich materiellen Genuss, Jñānis (diejenigen, die nach Befreiung aus dem Kreislauf von Geburt und Tod streben) wünschen sich Befreiung, yogis (diejenigen, die nach mystischen Kräften streben) wünschen sich Macht über die Materie und deshalb sind sie lustvoll und können keinen Frieden erlangen.“

In Bhagavad-gītā 9.22 sagt der Höchste Herr:

„Doch denjenigen, die Mich mit Hingabe verehren und über Meine transzendentale Gestalt meditieren, gebe ich, was sie brauchen und erhalte ich, was sie haben.“

Mokṣa oder mukti ist nicht die Lösung aller Probleme eines Individuums. Buddhisten und andere Unpersönlichkseitsanhänger streben das an und unintelligente Menschen glauben, mit dem Tod sei alles vorbei – wozu also nach Befreiung streben? Deshalb heißt es in Caitanya-caritāmṛta, Madhya-līlā 19.150:

„O großer Weiser, unter vielen Millionen von materiell befreiten Personen und unter vielen Millionen von siddhas, die fast die Vollkommenheit erreicht haben, gibt es kaum ein reinen Geweihten Narayanas. Nur solch ein Geweihter ist wirklich völlig zufrieden und friedvoll.“

Schlussfolgerung

Sanātana-dharma oder Beschäftigung im liebevollen Dienst des Höchsten Herrn ist eigentlich das Ziel von dharma, artha, kāma und mokṣa. Personen, die ihre Pflichten im varnāśrama-dharma erfüllen, um Viṣṇu zufriedenzustellen, befinden sich auf dem richtigen Pfad und werden irgendwann auf die Ebene von sanātana-dharma kommen, wo die Regeln des varnāśrama-dharma für sie keine Bedeutung mehr haben. Menschen, die um materieller Vorteile Willen den Regeln des varnāśrama-dharma folgen, betrügen sich selbst und sie werden irgendwann zu Fall kommen. Menschen, die überhaupt keinen Regeln folgen, die vedischen Schriften missachten und kein Interesse an spirituellem Fortschritt haben, werden in den Śāstras (den offenbarten vedischen Schriften) als dvipāda-paśus (zweibeinige Tiere) bezeichnet, und im dritten Mantra der Sri Isopanisad werden sie ātmā-hā, "Mörder der Seele", genannt.

Im kali-yuga, dem jetzigen Zeitalter, ist die Masse der Menschen unwissend in bezug auf ihre spirituelle Natur, die vedischen Schriften und auf das, was ihnen ewiges Glück und Freiheit bringt; varnāśrama-dharma ist ihnen so gut wie unbekannt und die Menschen streben hauptsächlich nach materiellem Glück; diejenigen, die sich für religiös halten und irgendeinem „Ismus“ folgen, missachten die vedischen Schriften und die Persönlichkeit Gottes und sind deshalb nicht besser als gewöhnliche Hedonisten.

In Bhagavad-Gītā sagt der Höchste Herr:

yadā yadā hi dharmasya glānir bhavati bhārata | abhyutthānam adharmasya tadātmānaṃ sṛjāmy aham
„Um die Frommen zu erretten, die Gottlosen zu vernichten und um die Prinzipien der Religion wiedereinzuführen, erscheine Ich Zeitalter nach Zeitalter.“
— Bhagavad-Gītā 4.7

Der Höchste Herr erschien vor ca. 500 Jahren in der Form Śrī Caitanyas in Navadvipa, Bengalen. Er stieg herab aus Seinem ewigen Reich, um sanātana-dharma zu lehren
(siehe: Yuga-dharma — Religion in den 4 Zeitaltern).

Anmerkungen

1 Ein ind. Gericht bestehend aus Reis, Dhal, Ghee und anderen Zutaten.

2 Erlangung von artha und kama noch im gleichen Leben ist im Kali-Yuga, dem jetzigen Zeitalter, leider immer weniger möglich, je weiter die Zeit voranschreitet. Da im Kali-Yuga vieles auf den Kopf gestellt ist, vieles verkehrt ist, erlangt man in dieser Zeit Reichtum und Ansehen etc. eher durch Betrug, eher durch irreligiöse Handlungen. Die Früchte frommer Handlungen erlangt man aber mit Sicherheit im nächsten Leben.