Vers
 VEDA 
jñānena tu tad ajñānam yeṣāṃ nāśitam ātmanaḥ | teṣām ādityavaj jñānaṃ prakāśayati tat param
„Wie die Sonne Dunkelheit vertreibt und alles erleuchtet, so zerstört göttliches Wissen Unwissenheit und offenbart die transzendentale Absolute Wahrheit.“ — Bhagavad-Gītā 5.16    

Śāstra, Guru, Sādhu

Vedisches Wissen ist keine Sache akademischer Gelehrsamkeit. Derjenige, der dieses Wissen lehrt und derjenige, der es empfängt, müssen beide qualifiziert sein. Ein blinder Lehrer kann nicht Form und Farben eines Gegenstandes beschreiben und ein blinder Schüler kann solche Beschreibungen eines Sehenden nicht begreifen. Im Manu-Saṃhitā, einem Werk, das vedisches Wissen vermittelt, heißt es:

Heiliges Wissen kam zu einem Brāhmana und sprach zu ihm: „Ich bin dein Schatz, bewahre mich, liefere mich nicht an einen Verächter, einen Unwürdigen aus, so werde ich sehr stark werden. Gib mich, als Hüter deines Schatzes, einem reinen, selbstbeherrschten, enthaltsamen und aufmerksamen Brāhmana.“

Wie wir sehen, ist das vedische Wissen alles andere als eine Sache trockener Gelehrsamkeit, eine Sache für mentale Spekulation; es ist heilig, es ist Gott selbst und beide – der Geber und der Empfänger dieses Wissens – müssen würdig, müssen qualifiziert sein, es zu geben bzw. zu empfangen.

Reinheit, Selbstbeherrschung, Enthaltsamkeit und Aufmerksamkeit werden in dieser Aussage der Manu-Saṃhitā als Qualifikationen eines Schülers des vedischen Wissens genannt. Die gleichen Qualifikationen muss auch der Lehrer des Wissens (Guru) besitzen. Außerdem muss er das Wissen verinnerlicht haben durch praktische Anwendung und er muss fähig sein, es Zeit, Ort und Umständen entsprechend zu lehren.

Spirituelles Wissen wird ātmā-jñāna, brahma-jñāna oder einfach jñāna genannt und verwirklichtes Wissen wird vijñāna genannt. Die Höchste Persönlichkeit Gottes ist der Ursprung aller materiellen und spirituellen Manifestationen. Der Vorgang Ihn zu erkennen ist jñāna. Vijñāna bedeutet den Höchsten Herrn durch Anwendung von jñāna hinter allen und in allen Dingen zu sehen (jñānena tu tad ajñānam yeṣāṃ nāśitam ātmanah | teṣām āditya-vaj jñānaṃ prakāśayati tat param   — B-G. 5.16). Darum geht es letztendlich in den vedischen Schriften.

Drei Instanzen des Wissens sind Śāstra, Guru und Sādhu. Śāstra sind die Schriften, in denen das Wissen aufgezeichnet ist (siehe: die vedischen Schriften). Gurus sind authorisierte Lehrer, die das Wissen an qualifizierte Schüler weitergeben und Sādhus sind alle heiligen Persönlichkeiten, die das Wissen verwirklicht haben und es praktisch leben.

Ein Guru, dessen Aussagen nicht konform sind mit den Aussagen der śastra, ist ein Pseudo-Guru; Sādhus, die den Anweisungen der offenbarten Schriften zuwiderhandeln, sind Pseudo-Sādhus und Schriften, die etwas anderes lehren als die vedischen Schriften und als echte Gurus, werden nicht als śastra anerkannt.

Das spirituelle Wissen wird in einer Guru-Parampara genannten Schülernachfolge von einem Guru an seine Schüler herabgereicht und gelehrt. Schüler, die Gurus werden, unterrichten ihre Schüler und diejenigen der Schüler, die selbst Gurus werden, unterrichten wieder ihre Schüler und so weiter. Das ist das Parampara-System.

Der ursprüngliche Guru (Ādi-Guru), von dem alles Wissen ausgeht, ist Kṛṣṇa. Er unterwies als erstes Lebewesen im Universum Brahmā; Brahmā unterwies die vier Kumaras, Narada und andere Weise; Narada unterwies Vyāsadeva, Prahlada Mahārāja und andere; Vyāsadeva unterwies Śukadeva usw. Diese Guru-parampara ist vom Beginn der Schöpfung bis heute intakt. Bedeutende Lehrer des spirituellen Wissens sind heute einige Schüler Bhaktisiddhanta Sarasvati Goswamis und einige von deren Schülern. Eine besondere Stellung nimmt Śrīla A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupada in der Guru-parampara ein, da er das spirituelle Wissen als erster außerhalb Indiens lehrte. In der Tat war er von seinem spirituellen Meister ermächtigt, das Wissen in der ganzen Welt zu verbreiten. Auf diese Weise kann man das spirituelle Wissen in der Guru-parampara empfangen.

Nicht jeder, der sich als Guru ausgibt oder von seinen Anhängern als solcher bezeichnet wird, ist tatsächlich berechtigt und befähigt das spirituelle Wissen zu lehren. Da die Menschen im kali-yuga, dem jetzigen Zeitalter, nur wenig philosophische oder spirituelle Intelligenz besitzen – ihre Intelligenz ist irregeleitet und hauptsächlich mit Sinnengenuss, mit Erfindung und Bau von technischen Geräten aller Art und mit der Erfindung von Verkaufsstrategien beschäftigt – und die Śāstra nicht kennen, konnten viele Pseudo-Gurus und Pseudo-Sādhus falsche Lehren verbreiten und in der Gesellschaft eine falsche Vorstellung von Guru und Sādhu erzeugen. Ein sogenannter Sādhu, der den ganzen Tag Haschisch raucht und vom Betteln lebt und ein sogenannter Guru, der seinen Anhängern lehrt, wie sie ihre Sinne noch besser befriedigen können, sind Witzfiguren. Nur ein Unwissender wird solche Leute als Sādhu bzw. Guru bezeichnen.