Vers
 VEDA 
jñānena tu tad ajñānam yeṣāṃ nāśitam ātmanaḥ | teṣām ādityavaj jñānaṃ prakāśayati tat param
„Wie die Sonne Dunkelheit vertreibt und alles erleuchtet, so zerstört göttliches Wissen Unwissenheit und enthüllt die transzendentale Absolute Wahrheit.“ — Bhagavad-Gītā 5.16    

Varnāśrama-Dharma

Das vedische Gesellschaftssystem

Nachfolgender Text ist ein Auszug aus Mahabharata – Juwel der Poeten, TEIL II, Kapitel 2 und beschreibt in groben Zügen das vedische Gesellschaftssystem, Varnashrama-Dharma genannt. Es ist die Einführung zum Kapitel, das viele Zitate aus dem Mahabharata bezüglich Varnashrama-Dharma enthält.

Ein gutes Gesellschaftssystem zeichnet sich dadurch aus, dass die materiellen Bedürfnisse der Menschen befriedigt sind und gleichzeitig jeder entsprechend seiner Natur und persönlichen Bemühung fortschreiten kann in spiritueller Erkenntnis und Vollkommenheit. Dies ist in der vedischen Gesellschaftsordnung, Varṇāśrama-dharma genannt, in idealer Weise gegeben. Das Varṇāśrama-dharma entspringt nicht dem begrenzten Verstand fehlbarer Lebewesen, sondern wurde vom vollkommenen höchsten Herrn, Viṣṇu, selbst geschaffen. Es ist auch nicht möglich, das Mahābhārata richtig zu verstehen, solange man nicht dieses dharma (Religion, göttliches Gesetz) verstanden hat.

Außer im Mahābhārata gibt es Aufzeichnungen über dieses Wissen in den Purānas und anderen vedischen Schriften. Am ausführlichsten wird dieses System in den dharma-śāstra genannten Schriften behandelt, von denen die Manu-saṃhitā – auch Manu-smṛti genannt – die bekannteste ist. Die Manu-saṃhitā wurde in alter Zeit von Manu (Avatāra Viṣṇus und Vater der Menschheit) als Gesetzbuch für die Menschheit verfasst.

Im Varṇāśrama-dharma ist die Gesellschaft in vier soziale Klassen (varṇas) entsprechend der Beschäftigung der Menschen und in vier Lebensstände (āśramas) entsprechend der spirituellen Reife der Menschen unterteilt. Einfach dadurch, dass ein Mensch die Pflichten seines jeweiligen varṇas und āśramas erfüllt, macht er Fortschritt in Richtung menschlicher Vollkommenheit. Diese Pflichten werden ihm von den Vedas vorgeschrieben, die in der vedischen Kultur als die Höchste Wahrheit und Höchste Autorität anerkannt werden, wie im vorherigen Kapitel bereits erklärt wurde.

Die vier varṇas sind Brāhmaṇa, Kṣatriya, Vaiśya und Śūdra, und die vier āśramas heißen brahmacarya, gṛhastha, vānaprastha und sannyāsa. Die Brāhmaṇas1 gelten als der Kopf der Gesellschaft, weil sie durch ihre Intelligenz und ihr Wissen die Richtung der Gesellschaft angeben. Die Kṣatriyas sind die Arme der Gesellschaft, weil sie die Gesellschaft vor innerer und äußerer Störung beschützen. Die Vaiśyas werden als der Bauch der Gesellschaft betrachtet, weil sie für die Nahrungsmittelversorgung und die Versorgung mit Gebrauchsgütern verantwortlich sind. Und die Śūdras sind die Beine der Gesellschaft, weil sie durch ihre Arbeit und ihre Dienste die Gesellschaft tragen. Jeder dieser Klassen obliegen bestimmte Pflichten, die von den Angehörigen jedes varṇas so gut wie möglich erfüllt werden müssen, damit die Gesellschaft effektiv funktionieren kann.

Zu welchem varṇa jemand gehört, wird durch seine Eigenschaften bestimmt. Z.B. darf jemand, der nicht die Eigenschaften eines Brāhmaṇas besitzt, nicht die Tätigkeiten eines Brāhmaṇas ausführen. Mit welchen Eigenschaften die Menschen geboren werden und welche Eigenschaften sie im Laufe ihres Lebens entwickeln, hängt von den drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur (triguṇa) ab, von denen der Mensch beeinflusst wird oder sich beeinflussen lässt.2

Ein Mann der drei höheren Klassen (Vaiśya, Kṣatriya und Brāhmaṇa) verbringt einige Jahre seiner Kindheit und Jugend als Schüler im Hause eines spirituellen Lehrers (Guru3), dient ihm ergeben, lebt im Zölibat (Brahmacarya-Gelübde) und empfängt von ihm das Wissen der Vedas. Das ist der Brahmacarya-āśrama.4 Dann mag er heiraten und Kinder zeugen. Dies wird Gṛhastha-āśrama genannt. Wenn die Kinder erwachsen sind, gibt der Mann sein Heim auf und begibt sich allein oder zusammen mit seiner Frau in den Wald (vāna) an einen heiligen Ort, nimmt Entsagungen und Härten auf sich, um sich von Sünden zu reinigen und Loslösung von materieller Anhaftung zu erlangen. Nun ist er ein Vānaprastha. Wenn ein Brāhmaṇa durch seine Bußen und Askese spirituell fortgeschritten genug ist, mag er sannyāsa annehmen, d.h. in den Lebensstand der Entsagung eintreten. Der Sannyāsin hat keine feste Bleibe. Er wandert im vollkommenen Gottvertrauen über die Erde, pilgert zu heiligen Orten und besucht spirituelle Versammlungen, lehrt spirituelles Wissen und ist völlig unangehaftet an weltliche Dinge.

Genau wie den varṇas sind auch den āśramas bestimmte Pflichten zugeordnet. Wie diese Pflichten der varṇas und āśramas im einzelnen aussehen, und was die Eigenschaften der Brāhmaṇas, Kṣatriyas, Vaiśyas und Śūdras sind, geht aus den nachfolgenden Zitaten dieses Kapitels hervor, die zum größten Teil dem letzten Gespräch zwischen Bhīṣma und Yudhiṣṭira Mahārāja auf dem heiligen Feld von Kuru (Kurukṣetra) nach der großen Schlacht entstammen. Da Yudhiṣṭira der Herrscher der Erde geworden war, war alles Wissen über Kṣatriya-Pflichten für ihn natürlich von größter Wichtigkeit und deshalb – und auch noch aus anderen Gründen, die aus den Zitaten selbst hervorgehen – haben die Zitate über dieses varṇa in diesem Kapitel auch den größten Raum erhalten.

Was ist die Position der Frau in der vedischen Gesellschaft? – Eine Frau sollte in ihrer Kindheit von ihrem Vater, danach von ihrem Ehemann und im Alter von ihren Söhnen beschützt werden. Für eine Frau gibt es im varṇāśrama-dharma keine höhere Pflicht als ihrem Ehemann treu zu dienen. Durch solchen treuen Dienst erhält sie die Hälfte seiner religiösen Verdienste.

Varṇāśrama-dharma bedeutet, dass jeder seiner Natur entsprechend beschäftigt ist; es findet keine Diskriminierung statt. Das Ziel ist Viṣṇu und sein Reich, und jedem wird die Möglichkeit gegeben, sich diesem Ziel zu nähern, wenn er als ein Teil des Ganzen seiner Natur, seinem karma gemäß dem Ganzen dient.

Nachdem Śrī Kṛṣṇa, der Höchste Herr, vor ca. 5000 Jahren den Planeten verlassen hatte und in sein ewiges Reich zurückgekehrt war, ist das Varṇāśrama-System im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende allmählich zerbröckelt. Reste davon finden sich heute fast nur noch in Indien und zwar oft in pervertierter Form als Kastensystem. Es gibt zwar noch viele Brahmanas in Indien und auch in anderen Ländern, aber es gibt nicht einen einzigen Ksatriya-König auf der Erde, der die Brahmanas und alle anderen Lebewesen in seinem Reich beschützt, der nach den göttlichen Prinzipien gerecht regiert, der für gerechte Bestrafung von Missetätern sorgt und so weiter.


Anmerkungen

1 Brāhmaṇa bedeutet, „derjenige, der das brahman (die spirituelle Energie, Realität) kennt“, d. h. derjenige, der spirituelles Wissen und Verwirklichung besitzt.

2 Siehe: Triguna – sattva, rajas, tamas

3 Das Sanskritwort Guru bedeutet „schwer“. Es bezeichnet aber auch jemanden, der „schwer“ ist mit Wissen, der respektabel und bedeutend ist, also einen Lehrer oder spirituellen Meister.

4 In der Manu-smṛti wird die Einweihung und das Leben eines brahmacārin im āśrama seines Lehrers anschaulich geschildert bis hin zur Beschreibung der Kleidung, der Haartracht etc.